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Seelenverwandtschaft und Alter Ego in Sagen und Zaubermärchen

Die König Guntram Sage

Der fränkische König Guntram war eines gar guten, friedliebenden Herzens. Ein Mal war er auf die Jagd gegangen, und seine Diener hatten sich hierhin und dahin zerstreut; blos ein einziger, sein liebster und getreuster, blieb noch bei ihm. Da befiel den König große Müdigkeit; er setzte sich unter einen Baum, neigte das Haupt in des Freundes Schooß, und schloß die Augenlieder zum Schlummer. Als er nun entschlafen war, schlich aus Guntrams Munde ein Thierlein hervor in Schlangenweise, lief fort bis zu einem nahe fließenden Bach, an dessen Rand stand es still und wollte gern hinüber. Das hatte alles des Königs Gesell, in dessen Schooß er ruhte, mit angesehen, zog sein Schwert aus der Scheide, und legte es über den Bach hin. Auf dem Schwerte schritt nun das Thierlein hinüber, und ging hin zum Loch eines Berges, da hinein schloss es. Nach einigen Stunden kehrte es zurück, und lief über die nämliche Schwertbrücke wieder in den Mund des Königs. Der König erwachte und sagte zu seinem Gesellen: „ich muß dir meinen Traum erzählen, und das wunderbare Gesicht, das ich gehabt.“ „Ich erblickte einen großen, großen Fluß, darüber war eine eiserne Brücke gebaut; auf der Brücke gelangte ich hinüber, und ging in die Höhle eines hohen Berges; in der Höhle lag ein unsäglicher Schatz und Hort der alten Vorfahren.“ Da erzählte ihm der Gesell alles, was er unter der Zeit des Schlafes gesehen hatte, und wie der Traum mit der wirklichen Erscheinung übereinstimmte. Darauf ward an jenem Ort nachgegraben, und in dem Berg eine große Menge Goldes und Silbers gefunden, das vor Zeiten dahin verborgen war.

(Gebrüder Grimm; Der schlafende König. aus: Deutsche Sagen, Band 2, S. 90-91, 1. Auflage, 1818, Nicolai Verlag, Berlin)


Deutung

Seelentier | Blog | Raum und Mensch - Schule für Geomantie und Radiästhesie
Seelentier und Körper-Seele

Im Schlaf fiel König Guntram in einen totähnlichen Zustand und ging auf eine schamanische Reise. Die Reise wird durch seine Körper-Seele, sein Zweites Ich (Alter Ego), seinen Seelenverwandten - in der Sage symbolisiert durch das schlangenähnliche Tierchen (Tierwesen), das den Körper des Königs verlässt - unternommen. Auf seiner Reise überquerte er einen Fluss. Flüsse markieren häufig die Grenze zwischen der diesseitigen Welt und der Anderswelt. In der griechischen Mythologie markiert der Fluss Styx – der auch eine Verkörperung der gleichnamigen Flussgöttin ist – die Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und dem Reich der Toten. Der Seelenführer Charon schifft die Seelen über den Fluss. In der Sage wird die Rolle des Seelenführers vom Diener übernommen, der mit dem Schwert die eiserne Brücke über den Fluss legt und so König Guntrams Zweites Ich hinüberbegleitet.

Der hohe Berg steht für die Anderswelt und die Höhle das Portal in dieses Reich. Auf seiner schamanischen Reise gelangt König Guntrams Seelentier in das Jenseitsparadies, das Reich der Überfülle, das Reich der Frau Holle. Er bleibt für eine unbestimmte Zeit dort, bei der Tod im Leben Göttin und wird von ihr initiiert in die großen Weisheiten und Mysterien des Lebens. In der Sage werden diese als unsäglicher Schatz und Hort der alten Vorfahren beschrieben.

Die alten Vorfahren sind die Ahninnen und Ahnen, die große Ahnfrau und Stammesmutter, die große Göttin, die Frau Welt selbst. Erst in späteren Varianten vieler Sagen und Märchen, als spirituelle Erkenntnisse mehr und mehr von der Befriedigung im Äußeren verdrängt wurden, kam es zu einer Transformation. Aus den wertvollen immateriellen Schätzen die tiefe Weisheit und Erkenntnis brachten, wurden materielle Reichtümer aus Gold, Silber und Edelsteinen.

Das schlangenähnliche Tierchen, König Guntrams Seelentier, kehrt schließlich über den Mund in den physischen Körper des Königs zurück. Das ist sehr wichtig, denn beide - die menschliche Person und die Körper-Seele, das Tierwesen - sind untrennbar miteinander verbunden. Würde dem Tierwesen auf seiner externen Reise etwas zustoßen, so müsste auch König Guntram sterben und umgekehrt.


Solche externen Körper-Seelen-Reisen finden wir häufig in alten Sagen und Märchen. Die Körper-Seele, das Alter Ego muss nicht immer ein Tierwesen sein. Manchmal ist es eine Pflanze. manchmal ist es ein Objekt, ein Gegenstand.

Zwölf Brüder | Blog | Raum und Mensch - Schule für Geomantie und Radiästhesie
Zwölf Brüder

Im Märchen von den Zwölf Brüdern der Gebrüder Grimm stehen die Lilien für die Körperseele. „Nun eines Tages, da die zwölf Brüder wieder aus waren, ging das Schwesterchen in den Wald spazieren und kam an einen Platz, da standen zwölf weiße Lilien, die waren so schön und es brach sie alle miteinander ab. Da war eine alte Frau (die Tod-im-Leben-Göttin), die sprach: Ach mein Töchterchen, warum hast du die zwölf Studentenblumen (Lilien) nicht stehen gelassen. Das sind deine zwölf Brüder und sie müssen nun alle in zwölf Raben verwandelt werden.


Im Märchen von Johannes und Casper Wassersprung, ebenfalls von den Gebrüdern Grimm, wird das Alter Ego durch ein Messer symbolisiert. „Wir müssen uns trennen, und der eine soll rechts und der andere links weiterziehen.“ Beide steckten ein Messer in den Baum. Wenn sich Rost an einem der Messer bildet, ist das ein Zeichen, dass es dem, der es in den Baum gesteckt hat, schlecht geht.


Auch „das Märchen von der Unke“ beinhaltet dieses Thema. Hier könnt ihr es lesen und versuchen es zu deuten.


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